Nikita Lary and Jay Leyda (eds.): The Alexander Medvedkin Reader

Compiled by Alexander Medvedkin, Jay Leyda and Nikita Lary, Chicago und London: The University of Chicago Press, 2016, ISBN 978-0-226-29613-5, 356 p.

Author
Alexander Schwarz

Keywords: Medvedkin; Kinozug; sowjetisches Kino; Filmsatire; Fronttheater; Frontberichterstatter; Farbfilm.

Es gibt Bücher, deren Entstehungsgeschichte fast so bedeutsam und interessant ist, wie der Inhalt selbst. Besonders, wenn sie sich wie in diesem Fall über 32 Jahre erstreckt. Mit dieser Vorgeschichte hängt letztlich auch die Einschätzung dessen zusammen, was der Medvedkin-Reader den Lesern konkret bietet und wie seine Konzeption zu beurteilen ist. Die Entstehungsgeschichte ist hier von so großer Bedeutung, dass sie von Nikita Lary nicht nur im Vorwort präsentiert, sondern selbst zu einem Reader-Text (Nr. 28) gemacht wird, der als Nachwort fungiert. Sie verlief in mehreren Stationen. Zunächst Chris Markers Zufallsentdeckung von Medvedkins Film Sčast‘e / Das Glück (1935, Sowjetunion) in der Cinémathèque in Brüssel um 1967: „a hidden hand [from Moscow] had thrown this film into the seas of cinémathèques, hoping for a welcoming creek“ (328, Text Nr. 29: Marker, The Last Bolshevik. Reminiscences of Alexander Ivanovich). Zweitens die unverhoffte persönliche Begegnung Markers mit Medvedkin beim Leipziger Dokumentarfilmfestival 1967, die zu einer lebenslangen Freundschaft und Zusammenarbeit bis zu Medvedkins Tod 1989 führte. Drittens Jay Leydas Bemühungen Ende der 1970er und bis zu seinem Tod 1988, zusammen mit dem russischen Regisseur und mit vornehm-zurückhaltender Beteiligung Markers, eine Ausgabe von Medvedkin-Texten zusammenzustellen. Das gelang aus dem Fundus des Privatarchivs des Regisseurs und mit dessen Bereitschaft zur Aktualisierung früherer Texte. Viertens die damals zwar von Nikita Lary begonnene, aber erst nach dem Tod Markers 2012 wieder aufgenommene Überarbeitung der von Jay Leyda übersetzten Texte. Und schließlich die Ergänzung um wichtige Zeitzeugentexte von Sergej Ėjzenštein und Anatolij Lunačarskij.

Diese Entstehungsgeschichte zeigt, dass die Text- und Themenauswahl zwar früh von den ‚Schwergewichten‘ Medvedkin und Leyda festgelegt war, die Ausgabe aber doch erst reifen musste. Der Herausgeber Lary war anfangs vor allem Mitübersetzer und hielt sich an das vorhandene Konzept, das die Kapitel „On the Front Line of War and Revolution“, „Scripts“, „Satire – a Militant Art“ sowie „CVs and Addenda“ umfasst. Doch wohl erst nach der langen Vorlaufzeit fühlte sich Lary frei genug, das Konzept leicht zu modifizieren. Er bezog nun auch neuere Texte ein, wie etwa aus unveröffentlichten Interviews der Regisseurin Marina Goldovskaja mit Medvedkin oder zu den Archivfunden Nikolaj Izvolovs und der filmografischen Arbeit Aleksandr Derjabins (er bleibt ungenannt) – unter den Kapiteltiteln „Contextualizations“ und „Remembrance and Revival“.

Andererseits nutzte Lary nun leider die Freiheit nicht, schmerzliche Auslassungen wie die Geschichte und die Folgen des Meisterwerks Novaja Moskva / Das Neue Moskau (1938, Sowjetunion)1 zu korrigieren oder weitere Quellen in Moskauer Archiven auszuwerten. Bedauerlich, denn mit der langen Produktionszeit hatte sich die Erwartungshaltung der Leserschaft hin zu einer „definitiven“ Medvedkin-Ausgabe gesteigert. Zumal außer den beiden knappen Medvedkin-Monografien von Rostislav Jurenev 1981 und Emma Widdis 2005 nach Wissen des Rezensenten keinerlei russische, englische oder anderssprachige Text- oder Werkausgabe erschienen ist.

So können sich die Leserinnen und Leser des Readers zwar sowohl durch Texte zur frühen Theaterzeit, zu den Filmzügen oder als besondere Entdeckung zur Organisation von soldatischen Frontkameraleuten, als auch durch satirische Drehbücher und autobiografische Texte mit Medvedkins Werk und seinem hartem, an Repression grenzenden Schicksal gut vertraut machen. Und manche der großen Innovationen Medvedkins werden hier erstmals deutlich. Das betrifft etwa das Konzept interaktiver Zuschauerbeteiligung (der Soldaten) bei militärischen Instruktionsfilmen. Oder auch im Fall der legendären Kinozüge in den ukrainischen Industrialisierungs- und Kollektivierungsgebieten mit schneller Produktion und Präsentation vor Ort, direkt mit den an den Filmen Beteiligten oder den von ihnen Kritisierten (vgl. Heftberger 2015). Andere wichtige Innovationen wie Medvedkins Umgang mit Farbfilm oder seinen Postulaten zum Genre der politisch-satirischen „Einakter“-Filme werden jedoch nur kurz gestreift. Das gute Dutzend wohl außerhalb Russland vollkommen unbekannter später politischer Dokumentationen zum US-Imperialismus, zur ideologischen Entfremdung von China und zur westdeutschen Wiederaufrüstung und zum Erstarken neonazistischer Strömungen wird überhaupt nicht thematisiert.

Zudem kann man dem Reader einige editorische Mängel vorwerfen. Nachweise und Angaben zur Entstehungszeit für Texte fehlen oft; hier einige Beispiele: Bei „Cavalry Days“ (Text Nr. 1) lassen sich dessen Herkunft aus Medvedkins Privatarchiv und dessen Entstehung 1948 mit einer Revision in den 1980er Jahren sich nur durch Quervergleich von Fußnoten und anderen Texten im Reader erschließen. Der zentrale Text (Nr. 2) zur Geschichte des berühmten Kinopoezd „The Kinotrain: 294 Days on Wheels“ wurde zwar mit den Jahresangaben 1972, rev. 1984“ versehen. Der Hinweis auf die spanischen und russischen Erstpublikationen in Argentinien 1973 von Edgardo Cozarinsky und in Iz istorii kino (1978) unterbleibt. In „The Suppression of Happiness“ (Text Nr. 24) wird der Bemerkung Medvedkins, er sei in der französischen Presse erschienen, nicht weiter nachgegangen. Hinweise auf Erstveröffentlichungen fehlen sträflicherweise – wie bei Text Nr. 20, (Alexander Medvedkin and the Traditions of Russian Film, von Nikolaj Izvolov), sowie Text Nr. 26, der Kinopoezd-Filmografie, veröffentlicht von Aleksandr Derjabin. Beide entstammen dem Jubiläumsheft der Kinovedčeskie zapiski zu Medvedkins 100. Geburtstag im Jahr 2000. Dort hätte auch Derjabins komplette Filmografie Medvedkins sowie seine vollständige Filmografie der Kinozug-Filme mit 91 Titeln (!) auf Russisch vorgelegen, die im vorliegenden Reader sicher noch Platz gehabt hätten und schmerzlich vermisst werden – dazu später noch. Selbst eine Auswahlbibliografie von zweieinhalb Druckseiten von Medvedkin-Texten und der Artikelliteratur über ihn hätte dort schon fertig vorgelegen. So kann man als Leser des Readers nur aus einem späteren Text Medvedkins („Satire. An assailant’s weapon“, ca. 1966) erschließen, dass er 1939 zumindest schon einen Artikel publiziert hatte: Pozicii ne sdadim. Dort hatte er quasi ein Manifest zur Verteidigung der Filmsatire vorgelegt, das in dem Reader nicht hätte fehlen dürfen.

Unklar bleibt auch die Zielgruppe des Readers. Die Art der Anmerkungen und das Glossar legen nahe, der hochinteressante, inzwischen legendäre Regisseur solle eher einem nicht allzu vorinformierten Publikum und einer neuen Generation nahegebracht werden. Wenn jedoch Leser angesprochen werden sollen, die zumindest mit den Hauptwerken vertraut und neugierig auf deren Hintergründe, die wenig bekannten Filme und das berufliche Schicksal des Innovators und Satirikers Medvedkins sind, entstehen mehrere Lücken: Neben der Aussparung von Novaja Moskva wäre einer frühen und faszinierenden Farbfilme zu nennen, Cvetuščaja junost‘. Fizkul’turnyj parad 18 ijulja 1939 goda / Strahlende Jugend. Sportlerparade am 18. Juli 1939 (1939, Sowjetunion), der vor wenigen Jahren von Nikolaj Majorov restauriert wurde und der große Bedeutung für den Körperkult des Stalinismus hatte.

Insgesamt hat der Reader zwar das Verdienst, über die entstandenen und erhaltenen Kinopoezd- Filme in zwei Dokumenten näher zu informieren. Doch eine getrennte Filmografie Medvedkins wäre trotz einer gewissen Dopplung sehr hilfreich gewesen (zumal sie ja von Derjabin kommentiert vorliegt). Sie ist so im Text Nr. 22 Second Autobiography’. A filmmaker’s CV versteckt. Da sie aber so umfangreich ist und selbst Kennern des sowjetischen Films und Medvedkins zum großen Teil unbekannt sein dürfte, gehört sie zur einzigen größeren Textsammlung als Anhang unbedingt hinzu. Ebenso wünscht man sich die Nennung der russischen Filmtitel in Transkription, die leider generell unterblieben ist.

So ist das Urteil über den Reader von Lary und Leyda gespalten. Positiv, da er das große Verdienst hat, überhaupt nach so langer Zeit diese Texte und Hintergrundinformationen zu Medvedkin zu liefern. Und eben nicht nur den Stand in Medvedkins letzten Lebensjahren zu reflektieren, sondern erweitert zu haben. Skeptisch fällt das Urteil hingegen wegen der vielen Lücken und editorischen Problematiken aus, da durchaus die Möglichkeit bestanden hätte, den “definitiven” Reader mit allen nötigen und umfassenden Informationen über den Ausnahmeregisseur vorzulegen.

Alexander Schwarz

Freier Filmhistoriker, München

alex_schwarz@t-online.de

Notes

1 Erstmalig aufgeführt ausserhalb Russlands im Münchner Filmmuseum 1994 im Rahmen der Filmreihe "Das Alte und das Neue. Sowjetische Filme der Stalinära und das Perestrojka-Kino" 1, o.S. (red. N. Drubek-Meyer und A. Schwarz). Vgl. auch Drubek-Meyer 2001.

Bio


Alexander Schwarz studierte Neuere deutsche Literatur (Schwerpunkt Filmphilologie), Neuere Geschichte und Slavistik in München und St. Andrews, Schottland, sowie an der Staatlichen Filmhochschule VGIK in Moskau. Promotion in München mit einer Arbeit über deutsche und russische Stummfilm-Drehbücher; 1994 bis 2004 Fernsehredakteur im Dokumentarfilmbereich in München und London, seit 2005 freier Filmhistoriker, Kurator von Filmreihen, Filmemacher und Übersetzer für Filme aus dem Englischen und Russischen. Mit Günter Agde Herausgeber von Die rote Traumfabrik. Meschrabpom-Film und Prometheus 1921 − 1936, Berlin 2012, und mit Rainer Rother Herausgeber von Der Neue Mensch. Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland (DVD-Edition und Booklet), Berlin 2017.

Bibliografie

Cozarinsky, Edgardo (ed.). 1973. 294 dias sobre ruedas, 1973, Buenos Aires.

Drubek-Meyer, Natascha. 2001: “Zwei sowjetische Filmkomödien: A. Medvedkins Novaja Moskva (1938) und G. Aleksandrovs Vesna (1947)”, S. Frank / R. Lachmann / S. Sasse / Sch. Schahadat / C. Schramm (Hg.), Mystifikation - Autorschaft - Original, Tübingen, 239-61.

Heftberger, Adelheid. 2015. “Propaganda in Motion. Dziga Vertov, Aleksandr Medvedkin, Soviet Agitation on Agit-trains, Agit-steamers, and the Film Train in the 1920s and 1930s.” Apparatus. Film, Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 1. DOI:

Izvolov, Nikolaj. 2003. “Aleksandr Medvedkin i tradicii russkogo kino. Zametki o stanovlenii poėtiki”. Kinovedčeskie zapiski 49, 21-29.

Jurenev, Rostislav. 1981. Aleksandr Medvedkin, satirik. Moskva.

Medvedkin, Aleksandr. 1939. Pozicii ne sdadim. Proletarskoe kino 9. 16-19.

Medvedkin, Aleksandr. 1977. „294 dnja na kolesach“. Iz istorii kino. Materialy i dokumenty 10, 32-57.

Münchner Filmmuseum. 1994. Das Alte und das Neue. Sowjetische Filme der Stalinära und das Perestrojka-Kino 1, o.S. (red. N. Drubek-Meyer und A. Schwarz).

Widdis, Emma. 2005. Alexander Medvedkin. The Filmmaker’s Companion 2. London; New York.

Filmografie

Medvedkin, Aleksandr. 1935. Sčast‘e / Das Glück. Moskinokombinat.

Medvedkin, Aleksandr. 1938. Novaja Moskva / Das Neue Moskau. Mosfil’m.

Medvedkin, Aleksandr. 1939. Cvetuščaja junost‘. Fizkul’turnyj parad 18 ijulja 1939 goda / Strahlende Jugend. Sportlerparade am 18. Juli 1939. Lenfil’m, Mosfil’m.

Suggested Citation

Schwarz, Alexander. 2018. Review: “Nikita Lary and Jay Leyda (eds.). The Alexander Medvedkin Reader. Apparatus. Film, Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 7. DOI: http://dx.doi.org/10.17892/app.2018.0007.119

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