Jiří Flaišman, Lucie Kořínková, Michal Kosák und Jakub Říha (hrsg.): František Gellner, Dílo, Bd. 1 (1894–1908) und 2 (1909–1914)

Prag: Ústav pro českou literaturu AV ČR / Akropolis, „Kritická hybridní edice“, 2012, ISBN: 978-80-7470-068-2, 252 und 745 S., mit DVD

Author
Jean Boutan
Keywords
František Gellner, Czech poetry, satirical literature, anarchism, rebel generation, Fin de siècle, Belle Epoque, graphic art, media studies, complete works, digital humanities.

Die 2012 erschienene Gesamtausgabe des Werks des Dichters und begabten Malers und Zeichners František Gellner (1881–1914?) stellt einen Meilenstein in der heutigen Rezeption eines der markantesten und wohl radikalsten Repräsentanten der sogenannten „generace buřičů“, oder „Kreises der Rebellen“ (Schamschula 1996: 412) dar, die am Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die tschechische Literatur bestimmte. Obwohl Gellner ab dem 13. September 1914 allzu jung in den Wirren des Ersten Weltkriegs verschollen ist, hinterließ er ein umfangreiches schriftstellerisches Werk, das hier in seiner Ganzheit samt publizistischen Schriften, Bühnenwerk, Zeichnungen und Übersetzungen dargeboten wird. Als zweiter Versuch, das gesamte Werk Gellners zu versammeln, hat es damit Miloslav Hýseks 1926 bis 1928 erschienene dreibändige Ausgabe beachtlich aktualisiert und ergänzt. Diese Summa über einen meistens nur als Dichter bekannten Autor bringt die ganze Breite seines künstlerischen Schaffens ans Licht und ermöglicht – nicht zuletzt durch den zur Kontextualisierung dieses Werkes sehr nützlichen kritischen Apparat – eine Neubewertung seiner Rolle in der Kunst- und Literaturgeschichte der Jahrhundertwende.

Eine hybride Ausgabe

Zugleich eröffnet die neue Ausgabe des Gesamtwerkes Gellners beim renommierten Prager Akropolis-Verlag eine Reihe von wissenschaftlichen „kritischen hybriden Ausgaben“ (kritická hybridní edice) im Rahmen des editorischen Projekts, an dem das Institut für tschechische Literatur an der tschechischen Akademie der Wissenschaften nun weiterarbeitet. „Hybrid“ werden diese Editionen dadurch, dass sie den gedruckten Text mit einem digitalen Apparat auf einer beigefügten DVD ausstatten, damit dem unbefangenen Leser die abstoßende Masse von Marginalglossen, bzw. Fuß- und Endnoten erspart werde. Gleichzeitig ermöglicht diese digitale Ausgabe des Werkes eine Erweiterung des Datenmaterials über Gellner, welches dem Leser zugänglich wird. Sie bietet eine reiche Dokumentation an, etwa über die Rezeption des Schriftstellers. Nachdrucke von Handschriften und Zeichnungen werden in verschiedenen Formaten vorgestellt: als Faksimile, als Abschrift oder in einer textgenetischen Auslegung der Endversion. Es besteht weiter die Möglichkeit, das Werk nach verschiedenen Kriterien zu durchsuchen und es chronologisch, nach der literarischen Gattung und nach den Einzelwerken und Sammlungen zu ordnen.

Die neue Gesamtausgabe ist auch in dem Sinne hybrid, dass sie sowohl für die breite Öffentlichkeit als auch für die Wissenschaftsgemeinde bestimmt ist. Dementsprechend stellt diese durch Gellners Werke eröffnete Buchreihe einen editorischen Versuch dar, mit dem relativ neuen Bereich der Digital Humanities angemessen umzugehen, indem digitale Verfahren für wissenschaftliche wie auch Popularisierungszwecke verwendet werden. Die hier gewählte Form einer hybriden Edition zielt jedoch gleichzeitig darauf ab, die neu vorhandenen technischen Mittel auszunützen, ohne auf das Lesevergnügen im Papierformat zu verzichten. Somit kommt das experimentelle Konzept dieser Buchreihe den Kritikpunkten zuvor, die gegen eine rein digitale Ausgabe vorgebracht werden könnten. Beide Textversionen werden als komplementär angesehen: eine Lösung, die sich zu kritischen Werkausgaben klassischer Autoren, deren Wert nicht nur im Wortlaut des Textes, sondern auch in dessen Rezeption liegt, besonders zu eignen scheint und sich inzwischen bei zahlreichen Literaturwissenschaftlern weltweit durchgesetzt hat, obgleich nicht immer mit demselben Erfolg (in Frankreich verhält sich zum Beispiel die Webseite Molière 21 komplementär zur kritischen Ausgabe von Molières Gesamtwerk beim Pariser Verleger Gallimard, insofern als zahlreiche literarische Quellen als Ergänzung zum gedruckten Textkommentar angegeben werden: Molière 2010, Forestier 2021).

Ob nun die abgedruckte Version ohne Textkommentar – und ohne jegliche Illustration – einer breiten Leserschaft wirklich zugänglicher ist, sei dahingestellt. Satirische, zeitbezogene Texte bedürften wohl einiger Erläuterungen, um dem heutigen Leser verständlich zu sein. Im Allgemeinen bleibt diese Unterscheidung zwischen laienhaften und fachkundigen Lesern nicht unproblematisch, und bei der hier gewählten Lösung läuft der vorhandene kritische Apparat die Gefahr, völlig zu zersplittern. Der erste Band beinhaltet gleich zwei Einführungen in die Werkausgabe: eine erste zum editorischen Konzept des Ganzen, eine zweite zur vorliegenden Buchausgabe. Letztere dient hauptsächlich zur Rechtfertigung der Aufteilung des Werkes in zwei Bände. Will der Laie aber doch einen ausführlicheren Kommentar zu lesen bekommen, so wird er auf das Nachwort am Ende des zweiten Bandes verwiesen. Das nächste Level, „für Interessenten am eingehenden Studium der vorliegenden Texte“ („zájemce o hlubší studium prezentovaných textů“), befindet sich auf der DVD. Die Startseite wiederholt mit den wenigen nötigen Änderungen, was bereits in der Einführung zur Buchausgabe gesagt worden war; dazu kommen noch der aufschlussreiche Hilfebereich und eine längere Anmerkung zur Ausgabe in einem separaten Fenster.

Die DVD-Schnittstelle ist übersichtlich und sehr einfach zu bedienen, auch wenn nicht – der wissenschaftlichen Bestimmung des Apparats gemäß – gerade einnehmend. Besonders im Verzeichnis des Bildwerke entbehrt man einer Vorschau auf das Bildmaterial. Es wird daher schwierig, sich einen Überblick über diesen bei dem ausgebildeten Maler Gellner doch so wichtigen Teil der künstlerischen Tätigkeit zu verschaffen. Man bekommt beinahe den Eindruck, Werke der bildenden Kunst seien hier lediglich als Begleitmaterial zur Textausgabe vorhanden – tatsächlich wird es im Vorwort zur Buchversion, im Gegensatz zum schriftstellerischen Werk, nur in Klammern angeführt. Insgesamt ermöglicht aber das technische Medium ein beeindruckend umfangreiches Material darzulegen und dem Leser die ganze Breite der Dokumentation über Gellners Schaffen zur Verfügung zu stellen. Erfreulich ist namentlich der Zugang zur Rezeptionsgeschichte des Werkes, der sogar eine Auswahl von Sekundärliteratur im Volltext bietet (aber leider keine Bibliographie).

Gellners Gesamtwerk

Inhaltlich versucht diese kritisch-hybride Ausgabe, das Werk so umfassend wie möglich zu ergreifen. In Jiří Flaišmans und Michal Kosáks Vorwort zur Buchversion wird der neuen Ausgabe von Anfang an auferlegt, hundert Jahre nach Gellners Tod eine Bilanz zu ziehen. Die editorische Arbeit soll darüber hinaus die Beweglichkeit und Vielseitigkeit des Werkes betonen, wo immer es, wie es oft bei Klassikern geschieht, auf wenige floskelhafte Merkmale – etwa Skepsis und Zynismus – reduziert worden war. Zu diesen Bemühungen gehören laut den Herausgebern auch die neue Periodisierung, die durch die Aufteilung der Buchausgabe in zwei Bänden von ungleichem Umfang (1894–1908 und 1909–1914) dargeboten wird. Dies scheint jedoch nicht zu einem grundlegenden Blickwechsel zu führen. In Gellners Werk unterscheidet man üblicherweise zwischen zwei Lebensphasen: Die erste ist eine Zeit des Aufruhrs, die zweite eine Zeit der Besonnenheit, ja, der Resignation. Als Wendepunkt betrachtet man den Anfang seiner publizistischen Tätigkeit bei der Redaktion der Brünner Zeitung Lidové Noviny / Volkszeitung im Jahre 1911. Im Grunde übernimmt die vorliegende Ausgabe diese herkömmliche Aufteilung von Gellners Schaffen in zwei Lebensphasen, verschiebt dabei die Wende aber um zwei Jahre auf 1908-1909 – in eine Zeit, die in Hinsicht auf seine literarische Tätigkeit jedoch „erstaunlich leer“ („podivuhodně prázdný“, Gellner 2012a: 13) sein soll. Damals widmete sich nämlich Gellner vor allem der bildenden Kunst. Die Einführung dieser Novität basiert eigentlich nicht auf stilistischen Kriterien, sondern auf rein biographischen Vorgängen: einen Richtungswechsel in der politischen Haltung des bisher anarchistischen Sympathisanten und die Versöhnung mit seinem Vater im Jahre 1908.

Nichtsdestoweniger leistet diese zweibändige Ausgabe einen bedeutsamen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Werkes, indem sie die bisher verfügbaren Quellen ergänzt und aktualisiert. Miloslav Hýseks verdienstvolle Gellner-Ausgabe versammelte den gesamten literarischen Nachlass des Dichters und konnte sogar die zensierten Textstellen in den zur Gellners Lebenszeit bereits veröffentlichten Werken ergänzen. Sie bildet die Grundlage aller späteren Ausgaben von Gellners Werken, bis auf die von dem Herausgeber Vladimír Justl mit Rückgriff auf den handschriftlichen Nachlass vorbereitete Sammlung Verše / Verse (1980). Die vorliegende Ausgabe erweitert das vorhandene Korpus um die Korrespondenz und das bildende Werk: Hýsek waren 1926–1928 die Briefe noch nicht zugänglich, und die geplante Ausgabe des gesamten bildenden Werks – die unter anderem jene Texte einschließen sollte, die mit der Bildbeigabe unzertrennbar verbunden waren, etwa die Karikaturen aus Lidové Noviny, die jetzt im zweiten Band der Buchausgabe zu finden sind – kam damals nicht zustande.

Einige Werkkategorien fanden ihren Weg nur in die elektronische Ausgabe. Dazu zählen etliche Fragmente, Skizzen, Texte mit unsichererer Autorschaft, Adaptierungen – zum Beispiel Gellners Beitrag zum Libretto von Leoš Janáčeks Oper Výlety pana Broučka / Die Ausflüge des Herrn Brouček (1920), nach einer Vorlage von Svatopluk Čech. Ebenso sind auch die Prosaübersetzungen aus dem Französischen, vor allem die von Hýsek ausgelassene Übersetzung eines berühmten antimilitaristischen Romans von Lucien Descaves, Sous-Offs / Unteroffiziere (1889, bereits 1890 unter dem Titel Aus französischen Kasernen ins Deutsche übersetzt), nur auf der DVD zu finden. Die neue Ausgabe versuchte auch, Hýseks zeitbedingte Einordnung der verschiedenen Werke nach literarischen Gattungen durch Wiederherstellung ihrer chronologischen Abfolge zu kompensieren, um die Vielseitigkeit von Gellners Schaffen besser ins Licht zu setzen. Solch eine Aktualisierung von Gellners Gesamtausgabe trägt wesentlich zur Betonung der Heterogenität seines Werkes bei, wie von den Herausgebern beabsichtigt.

Dem Kommentar zufolge zeigt bereits die Entstehungsgeschichte der bekanntetesten Lyriksammlungen – Po nás ať přijde potopa / Nach uns kann die Sintflut kommen (1901) und Radosti života / Die Freuden des Lebens (1903) – eine Spannung im Frühwerk zwischen verschiedenen Einflüssen (anscheinend nur aus der tschechischen Literatur), zwischen Dekadenzstilisierung, Selbstironie und Sozialkritik. Auch in der zweiten Phase käme eine komplexere Konstellation der literarischen Eingebungen zur Schau, als üblicherweise angenommen wird. Dazu könnte man noch hinzufügen, dass diese Ausgabe eine weitaus vielschichtigere schriftstellerische Praxis hervorhebt, als die Buchveröffentlichungen einzelner oder ausgewählter Werke es vermitteln können: Neben den Lyriksammlungen tauchen jetzt auch Gellners publizistische Betätigung, sein beträchtliches satirisches Werk, Graphiken und zahlreiche unveröffentlichte Entwürfe, sowie Übersetzungen und Adaptationen auf. Das Gesamtwerk erscheint nicht mehr als ein ästhetischer Kanon, sondern als Spur eines künstlerischen Wirkens.

Traditionell wird bei Gellner auf den Einfluss Heines, der von dem tschechischen Dichter übersetzt worden ist, hingewiesen. Unter den Übersetzungen entdeckt man auch mehrere Gedichte vom französischen Romantiker Alfred de Musset, wie es der mit Gellner befreundete, in Paris tätige tschechische Literaturkritik Hanuš Jelínek (1930, 1935) erahnt zu haben schien, als er Gellner „un enfant du siècle“, ein Kind des Zeitalters, in Anlehnung auf Mussets autobiographischen Roman Les Confessions d’un enfant du siècle / Bekenntnis eines Kindes des Zeitalters (1836) nannte. Die Zugehörigkeit Gellners zu seinem Zeitalter, sein Verkehr in den einheimischen literarischen und politischen Gesellschaftskreisen, sowie seine Beziehungen zur deutschen und französischen Fremde werden von dieser umfangreichen Werkausgabe gut dokumentiert. Fremdsprachige Quellen fehlen jedoch zu dem vollständigen Bild von Gellners Schaffen: In Zukunft bliebe der Forschung noch die Aufgabe, das Werk in einem übernationalen Zusammenhang zu erörtern und seine bisherige Rezeptionsgeschichte außerhalb Tschechiens zu berücksichtigen – eine Geschichte, die ohnehin noch an ihrem Anfang steht.

Jean Boutan
PuppetPlays, Université Paul Valéry – Montpellier 3
jean.boutan@univ-montp3.fr

Bio

Jean Boutan: Studium an der Pariser Ecole normale supérieure, Promotion in Slawistik und Germanistik an der Sorbonne (2018), derzeit als Postdoc an der Universität Montpellier. Übersetzung von Gedichten aus Gellners Radosti života ins Französische und Herausgabe der Neuauflage von Jaroslav Hašeks Abenteuern des braven Soldaten Švejk in der Übersetzung von Benoît Meunier beim französischen Verleger Gallimard (2018). Eine Neuauflage von Kafkas Verschollenen wird demnächst in demselben Verlag erscheinen.

Bibliographie

Boutan, Jean. 2016. „Hanuš Jelínek traducteur de František Gellner : la coquetterie et le masque d’ironie“. Sborník Národního muzea v Praze 61 (1–2): 37–41.

Gellner, František. 2020. „Les joies de la vie“. Übersetzt von Jean Boutan. In: Po&sie 172–173 (2–3): 81–90.

Descaves, Lucien. 1889. Sous-offs, roman militaire. Paris.

Descaves, Lucien. 1890. Aus französischen Kasernen. Militärisches Roman. Übersetzt von Ludwig Wechsler. Budapest.

Forestier, Georges und Bourqui, Claude. 2021. Molière 21. http://moliere.huma-num.fr/index.php. 25. Januar.

Gellner, František. 1926. Spisy Františka Gellnera. 1. Básně. Herausgegeben von Miloslav Hýsek. Prag.

Gellner, František. 1927. Spisy Františka Gellnera. 2. Povídky a satiry. Herausgegeben von Miloslav Hýsek. Prag.

Gellner, František. 1928. Spisy Františka Gellnera. 3. Přístav manželství, Potulní národ, Feuilletony. Herausgegeben von Miloslav Hýsek. Prag.

Gellner, František. 1980. Verše. Herausgegeben von Vladimír Justl. Prag.

Gellner, František. 2012a. Dílo 1 (1894–1908). Herausgegeben von Jiří Flaišman, Lucie Kořínková, Michal Kosák und Jakub Říha. Prag.

Gellner, František. 2012b. Dílo 2 (1909–1914). Herausgegeben von Jiří Flaišman, Lucie Kořínková, Michal Kosák und Jakub Říha. Prag.

Jelínek, Hanuš. 1930. Anthologie de la poésie tchèque. Paris.

Jelínek, Hanuš. 1935. Histoire de la littérature tchèque de 1890 à nos jours. Paris.

Molière. 2010. Œuvres complètes. Herausgegeben von Georges Forestier. Paris.

Schamschula, Walter. 1996. Geschichte der tschechischen Literatur. 2. Von der Romantik bis zum Ersten Weltkrieg. Köln / Weimar / Wien.

Suggested Citation

Boutan, Jean. 2021. Review: “Jiří Flaišman, Lucie Kořínková, Michal Kosák und Jakub Říha (hrsg.): František Gellner, Dílo, Bd. 1 (1894–1908) und 2 (1909–1914).” Apparatus. Film, Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 12. DOI: http://dx.doi.org/10.17892/app.2021.00012.248

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