Kinematographische Tanzekstase

Kollektive Körper, Tanzritus der Chlysten und die ‘Choreomanie’ im Kino des ausgehenden Zarenreichs

Author
Clea Wanner
Abstract
​​Im Mittelpunkt der Studie steht die Tanzekstase als eine spezifisch körperliche Erfahrung der Moderne und deren Verflechtung mit dem Film des späten Zarenreichs. Der Artikel befasst sich mit der Tanzmanie als zentrale kulturelle Chiffre der europäischen Moderne und untersucht, wie der Topos innerhalb der Kultur transmedial zirkulierte und vom (russischen) Kino sowohl angeeignet als auch maßgeblich mitformuliert wurde. Im Fokus der Fallstudie steht eine ungewöhnliche, für die Kultur Russlands jedoch prägende Modellierung der Tanzmanie: das ‘radenie’, den sektiererischen Tanzritus der Chlysten, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine ambivalente Rezeption in der kulturellen und gesellschaftlichen Elite hervorrief. Nach der Februarrevolution 1917 entstanden zahlreiche Filme, deren Handlung sich um die dunklen Machenschaften der Chlystengemeinde drehte. Darunter auch das Produktionshaus Rus′ mit ihrer ‘Sektenserie’ Iščuščie Boga (1917/1918). Ausgehend von den fragmentarisch erhaltenen Filmen und unter Einbezug zeitgenössischer sozialer, kultureller und ästhetischer Diskurse werden historische Konstellationen herausgearbeitet und das ästhetische Potenzial der Tanzmanien untersucht. Denn die Filme präsentieren den ekstatischen Körper nicht nur als Form einer kollektiven Psychopathologie, sie machen ihn zum zentralen Schauwert des Films.
Keywords
Aleksandr Čargonin, Vladislav Starevič, Grigorij Boltjanskij, Rus′, Late Russian Empire, Russian Soviet Federative Socialist Republic, Temnaja vera, Lguščie Bogu, Belye golubi, Khlysts, performance culture, modern dance, ecstasy, choreomania.

Einführung

Tanz und Film. Mediale und kulturhistorische Affinitäten

Die Tanzriten der Chlysten und ihre Rezeption in der russischen Moderne

Iščuščie Boga . Die Sektenserie des Studios Rus′

Filmische Übertragungen des ‘radenie’

Der letzte Tanz oder das Ende einer Epoche?

Acknowledgment

Bio

Bibliography

Filmography

Suggested Citation

Einführung

Zum Film Temnaja vera / Der dunkle Glaube (1917, RFSFR), produziert vom Skobelev-Komitee und unter Regie des damals schon etablierten Trickfilmregisseurs und Kameramanns Vladislav Starevič (Władysław Starewicz / Ladislas Starevich), gab es bislang fast keine Quellen. Doch jüngst ist das Drehbuch zum verschollenen Film entdeckt und publiziert worden.1 Der Verfasser Grigorij Boltjanskij – Autor, Kritiker und Menschewik, der sich später einen Namen als Dokumentarfilmer und Leiter der Chronikabteilung des Moskauer Filmkomitees machen wird – beschreibt darin eine spektakuläre Szene ekstatischer Körper:

В вихре белой кисеи мелькают и исчезают, как заметаемые снегом, обнаженные руки, ноги, торсы… […] Некоторые фигуры в корчах падают на пол, выкрикивая: ‘Накатило! Накатило!’… Спустя несколько мгновений образуется общая свалка тел. Разгоряченные тела сливаются в какую‑то оргию, похожую на шабаш плотоядных ведьм. (zit. n. Dedinskij 2021: 92).

Nackte Arme, Beine und Oberkörper flackern und verschwinden, wie vom Schnee verweht, im Wirbelwind von Gazestoffen … […] Einige Figuren fallen sich windend auf den Boden und schreien: “Es geht los! Es geht los!”… Nach wenigen Augenblicken bildet sich ein gemeinschaftlicher Haufen von Körpern. Die erhitzten Körper vereinigen sich zu einer Art Orgie, ähnlich einem Fest von fleischfressenden Hexen. (Übers. C.W.)

Das “Drama aus dem Leben der Sekten”, so der Untertitel (ebd.: 83), erzählt das Schicksal des alten Bauern Ivan, der in die Fänge der Chlysten gerät und dabei sein Gehöft verliert. Im Sinne der sozialistischen Einstellung des Autors findet die Geschichte einen glücklichen Ausgang, als Ivan seinen religiösen Glauben zugunsten der “heiligen Arbeit” aufgibt (ebd.). Die obige Szene des ‘orgiastischen Ritus’ – es handelt sich um das ‘radenie’, den traditionellen Tanz der Chlysten – ist nicht nur aufgrund der besonderen Erwähnung in der zeitgenössischen Presse2 für den Film und die vorliegende Untersuchung bedeutend, sie zeugt auch von einem ausgeprägten Interesse der Filmschaffenden für die Sektenkulte. So entspricht die Szene fast wortgetreu einer Aufzeichnung des Schriftstellers und Essayisten Ioasaf Ljubič-Košurov (1912: 23), der 1912 dem Tanzritus ein ganzes Buch gewidmet hat.

Das besondere Interesse für die sektiererischen Kulte beschränkt sich jedoch nicht auf Temnaja vera, vielmehr lässt sich in der späten Phase der Epoche des ausgehenden Zarenreichs, respektive in der Übergangszeit zu einem sozialistischen sowjetischen Kino (während der Doppelregierung und der Etablierung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik) eine ganze Reihe von Filmen finden, die ihre Geschichten rund um die dunklen Machenschaften verschiedener sektiererischer Gruppierungen, insbesondere der Chlysten, entfalten.3

Diese regelrechte Welle an Sektenfilmen ist in den ersten beiden Jahren nach der Februarrevolution entstanden, als satanistische und mystizistisch-religiöse Motive im Kino der Zeit allgegenwärtig waren und die zunehmende Verklärung und Popularisierung Grigorij Rasputins, eines angeblichen Chlysten, gerade (anti-)sektiererische Themen befördert hat – also Themen, die erst nach der Februarrevolution und der Abschaffung der Zensur religiöser Motive auf die Leinwand kommen konnten.4 Dieses Korpus an Filmen fand in der bisherigen Forschung aber wenig Beachtung5 – dies erstaunt, lassen sie sich doch, obschon nicht als eigenes Genre, so zumindest als auffällige Erscheinung der späten Phase des Kinos im Russischen Reich fassen.6 Damit ist für die vorliegende Studie eine zeitliche Rahmung gewählt, die besondere Aufmerksamkeit fordert. Denn die zwei Jahre von ca. Mitte 1917 bis Ende 1919 bilden eine schwer definierbare Periode der russischen(-sowjetischen) Filmgeschichte. Handelt es sich um die Geburtsstunde der sowjetischen Kinokultur oder um das Ende der ersten Dekade des Erzählkinos im Russischen Reich? Oder wäre es produktiver, den kurzen Zeitraum als eine Form der Übergangsperiode zu betrachten? Eine Periode, die Vladimir Semerčuk (2013: 261) in Anlehnung an Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften mit “Parallelaktion” betitelt und die von der Gleichzeitigkeit zweier filmischer Systeme jeweils entgegengesetzter Welten geprägt ist. In diesem Epochenmodell konkurrieren die klassischen, der Tradition des vorrevolutionären Kinos verbundenen Werke – sogenannte Genrefilme (vornehmlich Melodramen, Komödien, Abenteuer- und Detektivfilme) aus privatwirtschaftlicher Produktion – mit den Agitfilmen sowjetischer Kinoorganisationen. Temnaja vera, der in den Genrefilm sozialistisch-revolutionäre Agit-Elemente einwebt, gibt bereits Hinweise darauf, dass bei genauerer Analyse die Sektenfilme diese etablierten Schemata herausfordern. Obschon sich der vorliegende Artikel nicht umfangreich systematisch mit dieser Frage beschäftigen wird, hat er das Ziel, neue Perspektiven auf diese produktive und zugleich sehr instabile Phase der Filmgeschichte zu entwerfen und somit auch einen Beitrag zu einer film- und kulturhistorisch-differenzierten Epochenschreibung zu leisten.

Im Folgenden werden die Filme jedoch nicht allein auf synchronischer Ebene betrachtet, vielmehr soll die Untersuchung in diachronischer Perspektive auch Brüche und Kontinuitätslinien einer Historiographie des Kinos des Zarenreichs herausarbeiten. Dafür gäbe es verschiedene Ansätze, wie etwa ein Vergleich der Filme mit anderen satanistisch-mystizistisch gefärbten Werken und/oder eine Analyse religiöser Motive im Hinblick auf die Entwicklung des sowjetischen Kinos. Ich schlage jedoch einen Blickwechsel vor. Inspiriert von dem obigen Drehbuchauszug einer ostentativen Ausstellung der ekstatischen Körper setze ich einen dezidierten Fokus auf die filmische Inszenierung der Tanzriten sowie ihre Verortung in einem breiteren Diskurs der Tanzekstasen in der (russischen) Moderne. Denn im kulturellen Horizont eines ausgeprägten Krisenempfindens (sei es einer Sprach-, Erkenntnis- oder Sinnkrise) tritt die Tanzekstase in Europa sowie in Russischen Reich im frühen 20. Jahrhundert als ein übergreifendes Konzept der körperlichen Entgrenzung auf, das höchst ambivalent rezipiert wurde: als authentischer Bewegungsausdruck, Form der Heilung oder Krisenbewältigung oder krankhafte Bewegungsstörung (Sirotkina 2012, Schetsche/Schmidt 2018, Wittrock 2012).

Eine solche konfliktreiche Lesart kommt auch in den ausgewählten Filmen zur Geltung, denn obschon die Botschaft der Filme eine Warnung vor dem Aufleben der Häretikerinnen und Häretiker darstellt, so treten in den Werken Themen wie Mystik, Erotik, Gottessuche und Politik in eine ungewöhnliche, teilweise auch ambivalente Verbindung. Diese ambivalente Lektüre entsteht in erster Linie – so die Hypothese – durch die Inszenierung des Tanzes, der einerseits als Aushandlungsort für Vorstellungen gesellschaftlicher Krisen, als auch für Imaginationen eines neuen Menschen oder Menschengemeinschaft auftritt, andererseits, wie die eingangs zitierte Tanzszene vermuten lässt, durch die filmische Verfremdung des Körpers, die dem Publikum eine besondere Attraktion bietet. Das ‘radenie’, in dem sich die Sektenmitglieder durch liturgischen Gesang und kreiselförmige Bewegungen in Ekstase bringen, verstehe ich als prägende Modellierung der Tanzmanie, die im Kontext der intermedialen Kulturgeschichte von frühem Film und Tanz auf ihre kulturhistorische Bedeutung sowie auf ihr filmästhetisches Potential hin zu analysieren sind.

Ausgehend von einem Überblick zu den verschiedenen Formen der filmischen Bearbeitung von Tanz und konkret Tanzekstase, werde ich im ersten Teil – mit Blick auf das Kino – die ‘Choreomanie’ in ästhetischen und kulturellen Diskursen im frühen 20. Jahrhundert verorten und dabei auch die Rezeption der Chlysten-Sekten und ihren Tanzritus hervorheben. Darauf aufbauend erfolgt im zweiten Teil die eigentliche Fallstudie, deren Analyse sich neben dem bereits erwähnten Film von Starevič auf Lguščie Bogu / Die Gottesleugner (Aleksandr Čargonin, 1917, RFSFR) konzentriert sowie weitere Filme aus dem Produktionshaus Rus′, das 1917 und 1918 gleich mehrere antisektiererische Filme herausbrachte, in den Blick nimmt.

Tanz und Film. Mediale und kulturhistorische Affinitäten

Das 20. Jahrhundert im Russischen Reich begann als eine Epoche des Tanzes. Die Tanzbegeisterung und die neue Offenheit für Einflüsse aus anderen Kulturen zeigten sich besonders in den Reformbewegungen des Balletts, allen voran der Ballets Russes. Doch nicht nur auf den Bühnen wurde getanzt. Die Verbreitung neuer Gesellschaftstänze, die in den USA und Europa im späten 19. Jahrhundert einsetzte und sich um die Jahrhundertwende stark beschleunigte, erreichte bald auch das Russische Reich. In Konzertsälen, Vergnügungsparks, auf Kleinkunstbühnen, im Film und auch in den Kinofoyers tanzte man – in neuen modischen Steppschuhen oder barfuß.

Eine solche Euphorie äußerst sich in der Kinokultur auf verschiedenste Weise: Erstens sind das offensichtlich die Darstellungen von Tänzen in Filmen selbst, seien das ‘abgefilmte’ Bühnenshows oder für den Film arrangierte und in den dramaturgischen Aufbau verwobene Tanzdarstellungen (Fig. 1); zweitens die produktionelle Anknüpfung an die darstellenden Künste (vornehmlich personelle Transfers aus Theater, Ballett, aber auch der Kleinkunstszene), eine medienhistorische Entwicklung zu der auch drittens die allgemeine infrastrukturelle Verknüpfung von Film und Tanz und deren Verortung in einer gemeinsamen Reihe kultureller Praktiken zu beachten gilt; viertens entsteht vor diesem komplexen Bezugsnetz auch ein vom Tanz maßgeblich geprägtes ‘Nachdenken über Film’, das sich etwa in der Denkfigur des tänzerischen Films äußert, also der Idee, dass der Film unabhängig von dem Dargestellten tänzerische Bewegungseffekte freisetzt, also eine Art Tanz vollführt, sowie damit verbunden fünftens die Idee einer besonderen kinästhetischen Rezeption des Films, durch die etwa tänzerische Bewegungen auf das Publikum übertragen werden.7

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Tanz der persischen Prinzessin. Grigorij Libken, Sten′ka Razin, 1914 (Gosfil′mofond).

Diese Tanzbegeisterung rückte in Europa sowie im späten Zarenreich zunehmend auch in den Mittelpunkt verschiedener Abwehrdiskurse, sie wurde zum zentralen Stimulus und zugleich zur Projektionsfläche für die Vorstellung einer krankhaften Tanzlust. Die Grenzerfahrung in der Tanzekstase erschien als höchst problematisch, als eine für Individuum und Kollektiv gefährliche Abweichung. Es geht um die ‘Choreomanie’, also um die Vorstellung, dass sich “‘Wahnsinn’ (mania), verstanden als Krise, als mental oder pathologisch bestimmter Ausnahmezustand [...] in Tanz und Bewegung manifestieren” kann (Fenger 2011, 10). Dementsprechend ambivalent fallen Konzeption und Rezeption von der Tanzekstase als ein riskantes Grenzphänomen, dessen Ausgang stets ungewiss ist, aus. In diesem Zusammenhang bemerkt Eike Wittrock treffend, dass der kritische Zustand der Tanzektase immer auch eine Krise bezeichnet. Zwischen Transzendenz und Zerstörung oszillierend wird die Ekstase je nach Kontext und Perspektive als “Indiz der Krise, Medium oder Ausdruck dieser, Auslöser, Kur oder Krise selbst verstanden” (Wittrock 2012: 122). Sie sei gleichzeitig “Auflösung, Übergang und Formierung” (ebd.).

Emblematisch für diese offene Lesart der Ekstase im russischen Kontext steht eine Reihe von Filmmelodramen, in denen die weibliche Hauptfigur als eine Tänzerin präsentiert wird, die sich – ausgerichtet an paradigmatischen Gestalten wie Isadora Duncan, Ida Rubinštein oder Asta Nielsen – nicht nur durch ein spezifisches (sexuelles) Körperbewusstsein auszeichnet, sondern gerade den emanzipatorischen Prozess der Selbstfindung oder – mit der heutigen Begrifflichkeit ausgedrückt – Selbstermächtigung in der künstlerischen Selbstverwirklichung vollführt. Dabei kulminiert dieser Prozess oft in einem Selbstmord, der im Tanz auch als ekstatische Erfahrung, als ein Oszillieren zwischen Transzendenz und Zerstörung, dargestellt wird. Auf diese Weise wird der selbstgewählte Tod als ambivalentes Selbstplädoyer inszeniert, indem die innere Befreiung durch ein äußeres Scheitern bedingt ist. Als Beispiele seien hier Ključi sčast′ja / Schlüssel des Glücks (Vladimir Gardin und Jakov Protazanov, 1913, Russisches Reich), Chrizantemy / Chrysanthemen (Petr Čardynin, 1914, Russisches Reich) und Roman baleriny / Roman einer Ballerina (Boris Čajkovskij, 1916, Russisches Reich) (Fig. 2) angeführt, die Bulgakova (2005) und Morley (2017) im Hinblick auf die (tänzerische) Körpersprache analysierten.

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Moderner Tanz im Film. Boris Čajkovskij, Roman Baleriny, 1916 (Gosfil′mofond).

Mit der Akzentuierung der Ekstase als Prozess des Übergangs kann sie auch als ein ‘Intermedium’ aufgefasst werden, womit die Aspekte der Übertragung und der Transformation, das unbeständige Dazwischen, in den Vordergrund rücken.8 Schließlich wird aus dieser Perspektive auch die pathologische Lesart der Ekstase, als Symptom einer psychischen Störung, verdeutlicht: die Ekstase, die Menschen aktiv übertragen oder von der sie angesteckt werden. Vergnüglich wird diese Vorstellung der Ansteckung in den Komödien aufgenommen. In Vsjak na Rusi tango tancuet / Jeder tanzt Tango in der Rus (Vladislav Starevič, 1914, Russland) wird die damals vorherrschende Idee einer epidemischen Verbreitung des Tangos (vermutlich mittels Stop-Motion-Technik) auf Insekten übertragen und in Lysyj vljublen v tancovščicu / Der Glatzköpfige verliebt sich in die Tänzerin (Robert Rejnol′d, 1916, Russisches Reich) wird die Hauptfigur von dem Bewegungsrausch einer Bauchtänzerin angesteckt, der sich in einem unkontrollierbaren, anzüglich-vulgären Zucken der Hüften äußert (Fig. 3). Die Idee des pathologischen Bewegungszwangs stellt somit auch ein ästhetisches Potenzial für den frühen Film dar, der mit seinen spezifischen gestalterischen Möglichkeiten eine solche Konzipierung der Tanzlust zur Schau stellen, aber auch unterwandern kann.

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Der ansteckende Hüftschwung. Robert Rejnol′d, Lysyj vljublen v tancovščicu, 1916 (Gosfil′mofond)

Die Tanzriten der Chlysten und ihre Rezeption in der russischen Moderne

Ähnlich wie in der Neulektüre der Veitstänze in Europa, also von mittelalterlichen Überlieferungen von Massentänzen, erfolgte im Russischen Reichim frühen 20. Jahrhundert eine von unterschiedlichen Interessen geleitete Auseinandersetzung mit den Riten der Sekten, insbesondere jenen der Chlysten. Das ‘radenie’ wurde im späten Zarenreich zum Studienobjekt unterschiedlicher Wissenschaften: Im gleichen Gestus wie der Neurologe Jean-Martin Charcot und sein Mitarbeiter Paul Richer die mittelalterlichen Tanzepidemien als Vorläufer des Kranheitsbildes der Hysterie beschrieben, wurden auch im Russischen Zarenreich der Mensch (meistens die Frau) und seine (ihre) unbewussten Funktionen sowie der Körper als Ort der reflexhaften Übertragung zum Faszinosum wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Praxis. So entstanden um die Jahrhundertwende und bis in die 1910er-Jahren hinein zahlreiche psychiatrische und psycho-physiologische Studien, die sich mit den körperlichen sowie bewusstseinserweiternden Prozessen des ‘radenie’ beschäftigten. Als Beispiel sei hier Dmitrij Konovalovs Studie Religioznyj ėkstaz v russkom mističeskom sektantstve von 1908 genannt, der darin nicht mehr aus einer religiösen Position gegen die verdächtigen sektiererischen Tanzekstasen argumentiert, sondern sie nun aus (pseudo-)medizinischer Perspektive als eine psychophysische Abweichung diagnostiziert (Konovalov 1908:4–55; Hansen-Löve 1996: 218)

Zudem etablierte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts die ‘Sektovedenie’ (Sektenwissenschaft), ein neues von der Kirchengeschichte entkoppeltes Forschungsfeld, das interdisziplinär an der Schnittstelle von Foklore-Studien, Ethnographie, Geschichts- und Religionswissenschaft angesiedelt ist. Die Studien versammeln nicht nur für die heutige Forschung wichtiges Quellenmaterial, sie lieferten mit ihren Dokumentationen der religiösen Rituale sowie des Alltags der Glaubensgemeinschaften auch das Ausgangsmaterial für politische und kulturelle Bearbeitungen im frühen 20. Jahrhundert (Zagańczyk-Neufeld 2021: 109–112). 9

Die Chlysten wurden zu einem zentralen Topos innerhalb der kulturellen und sozialen Elite. Nicht nur die russisch-orthodoxe Kirche warnte vor dem Aufleben der Häretikerinnen und Häretiker, sondern auch die politischen Eliten, die die Sekten als verschwörerische Gruppierungen und somit als Gefährdung des Zarenthrons und der öffentlichen Ruhe rezipierten. Demgegenüber stehen die Bohème, die sich im Zuge der allgemeinen Okkultismus-Begeisterung für die ekstatischen Kreiseltänze und Orgien der Chlysten zu interessieren begannen, sowie politisch-revolutionäre Bewegungen, die, wie etwa die Narodniki, in den Sekten eine Basis für die bäuerliche Revolution suchten (Pančenko 2004: 15).10 Im Kontext verschiedener sozialer Utopie-Projekte kommt der Idee eines kollektiven Körpers, der durch die transformatorischen Kräfte der Tanzekstase erreicht werden kann, eine besondere Bedeutung zu. Im Mittelpunkt des Tanzes steht nicht – wie etwa im Falle der ekstatischen Solotänze des modernen Tanzes – ein Individuum, sondern die Idee einer Verschmelzung zu einem übermenschlichen Körper (Ėtkind 1998: 80 f.). So begründet Irina Graščenkova das Faszinosum der Chlysten in einem breiten Kreis von Intellektuellen mit einer neuen Form eines Gemeinschaftskörpers.

Отказ от личной собственности в пользу коллективной, от брака, стремление слиться в некую ‘единую семью’, в одно ‘коллективное тело’ делало сектантскую общину своеобразной моделью социального устройства, и революционной и утопической одновременно. (Graščenkova 2005: 98)

Der Verzicht auf Privatbesitz und auf die Ehe zugunsten des Kollektivs und der Drang, zu ‘einer Familie’, zum ‘kollektiven Körper’ zu verschmelzen, machte die Sektengemeinschaft zu einem einzigartigen Modell einer sozialen, gleichzeitig revolutionären wie auch utopischen Ordnung. (Übers. C.W.)

Das Interesse für die Chlysten und ihre Kultur liegt neben der Idee einer Gemeinschaft in der körperbetonten Praxis ihrer Zeremonien, die im frühen 20. Jahrhundert einen gefragten Gegenpol in den Diskursen zur Sprachskepsis (der literarischen Moderne) bildete und in ihrer Verwurzelung in der russischen Volkskultur auch eine Quelle für verschiedene künstlerische Tendenzen eines gewissen (avantgardistischen) Primitivismus bot. Obschon das ‘radenie’ im Bereich des Magischen und Spirituellen angelegt ist, impliziert es ein körperliches Erleben, das im Gegensatz zu orthodoxen Riten eine greifbare somatische Erfahrung bereithält. Diese Gleichzeitigkeit von Immanenz und Transzendenz in den Kulthandlungen der Sekten beschreibt Aage Hansen-Löve als eine Dynamik widerläufiger Bewegungen. Einerseits ist es der “desemiotisierende, deverbalisierende, demetaphorisierende Drang zur Entfaltung des Verbal-Symbolischen ins Körperlich-Konkrete, in die grobianistische Direktheit unverhüllter Leiblichkeit” (Hansen-Löve: 173 f.), andererseits wird diese Tendenz

durch einen gegenläufigen Prozeß in Schach gehalten, der zur Vergeistigung, Pneumatisierung, Dematerialisierung etc. des Körperlichen strebt, was ja letztlich das religiöse Ziel der sektantischen Körperkulte darstellt: Aufstieg der Seele aus dem Gefängnis der Leiblichkeit, Vereinigung mit dem Urquell allen Seins, Rückkehr ins Alles und Nichts eines körperlosen Jenseits. (ebd.: 174)

Der Tanzritus der Chlysten lässt sich in diesem kulturhistorischen Rahmen als eine Form der ‘pljaska’ fassen, des in der heidnischen Kultur verwurzelten entfesselnden Tanzes, der im Gegensatz zum durch Konventionen disziplinierten ‘tanec’ steht. Dieses Oppositionspaar bildete im frühen 20. Jahrhundert einen zentralen Dreh- und Angelpunkt in den Diskursen des modernen Tanzes im Russischen Reich. Wie Irina Sirotkina (2010) genau differenziert, steht ‘pljaska’, die aus einem inneren Stimulus erfolgt und somit auch wild, leidenschaftlich, spontan oder eben ekstatisch sein kann, außerhalb des konservativen akademischen Bereichs und mithin im Gegensatz zu dem geordneten und gesellschaftlich codierten ‘tanec’.

Eine solche diskursive Modellierung des ‘radenie’ verdeutlicht sich im Essay “O smysle tanca” (1911), in dem Maksimilian Vološin (1988b: 399) die Tänze der Chlysten als Ausweg aus dem neurasthenischen Zustand der Gesellschaft, der auch ein gestörtes Körperbewusstsein verschuldet, anführt (Bulgakowa 2010: 355). Unter dem Eindruck der neuen Schulen des freien Tanzes, die, popularisiert von Isadora Duncan, auch im Russischen Reich aufblühten, schreibt er den ‘radenija’ eine kathartische, die Menschheit erneuernde Kraft zu, die analog zu den dionysischen Tänzen und dem darauf maßgeblich gründenden modernen Tanz zu lesen sind und die der Autor als “очистительным обрядом / reinigenden Ritus” zusammenfasst (Vološin 1998b: 397).

Im gleichen Duktus führt Vološin im Essay “Organizm teatra / Der Organismus des Theaters” von 1909 das Kino als ein Medium mit gesellschaftlichem Potential an. Das Kino soll wie das ‘radenie’ eine Form der kultischen Reinigung darstellen. Er verschaltet die immersive Kraft des Kinos mit dem ekstatischen Effekt der sektiererischen Tanzriten.

Под гипнотизирующую музыку однообразных маршей он [кинематограф, C.W.] показывает выхваченные сырьем факты и жесты уличной жизни. В маленькой комнате с голыми стенами, напоминающей корабли хлыстовских радений, совершается тот же древний экстатический, очистительный обряд. […] кинематографы, ради которых в католических странах пустеют не только театры, но и церкви, – свидетельствуют о громадности той потребности очищения от обыденности, о величии скуки жизни, которая переполняет города. […] С этой точки зрения значение кинематографа может быть благодетельно для искусства. (Vološin 1988a: 118)

Begleitet von der hypnotisierenden Musik monotoner Märsche zeigt er [der Kinematograph, C.W.] die nackten Tatsachen und Gesten des Straßenlebens. In einem kleinen Zimmer mit kahlen Wänden, das an die Schiffe der Chlysten-radenija erinnert, findet der gleiche alte ekstatische, reinigende Ritus statt. [...] Kinematographen, aufgrund derer in katholischen Ländern nicht nur die Theater, sondern auch die Kirchen sich leeren, künden von der enormen Notwendigkeit, sich vom Alltag zu reinigen, von der großen Langeweile des Lebens, die die Städte überfällt. [...] Aus diesem Blickwinkel betrachtet, kann die Bedeutung des Kinematographen für die Kunst bereichernd sein. (Übers. C.W.)

Vološins Argumentation fügt sich in eine Reihe von Kritiken ein, die in der Debatte ‘Kino gegen Theater’ im Kinematographen ein erneuerndes Potential festsetzten: Der Kinematograph sei nicht gegen das Theater gerichtet, im Gegenteil, er sei als Katalysator für eine Reform des Theaters nötig, so die Argumentation.11 Dabei hebt Vološin die besondere Affizierung des Publikums hervor: Der Wahrnehmungsmodus des Kinos werde mit der Körpererfahrung der Tanzekstase parallel gesetzt. Beide stellten eine ähnliche Wirkmacht bereit.

Der Tanzritus hat aber bemerkenswerterweise nicht nur eine spezifische Wirkung auf die Teilnehmenden, sondern auch, gemäß Hansen-Löve, auf die Zuschauenden. Charakteristisch für das ‘radenie’ sind die verschiedenen Formen rotierender Bewegungen der Tanzenden, wobei diese aufgrund der typischen weiten, im Tanz aufgeblähten langen Kleider die Form einer Röhre annehmen können:

Der solchermaßen Rotierende kann keine ‘diskreten’, geordneten Eindrücke mehr haben – und er/sie selbst erzeugt für den Betrachter den Eindruck, daß alle Züge und Merkmale verwischt sind. […] diese geradezu kinematographischen Rotationseffekte machen das radenie zu einem gesamtkörpersprachlichen Totalereignis. (Hansen-Löve 1996: 215)

Dieser Verweis auf das kinematographische Potential des ‘radenie’ lässt eine besondere Inszenierung eines solchen physischen Totalereignisses in den vorliegenden Filmen vermuten und knüpft indirekt auch an die grundlegende Frage nach den ästhetischen Konfigurationen von Tanz und Film an: Der Film, damals in weiten Kreisen als stumme Körperkunst aufgefasst (Kessler 1998), bietet nämlich spezifische Formen, (Tanz-)Ekstase zu repräsentieren, zu reflektieren und sogar erfahrbar zu machen. Entsprechend galt der Film als das Medium par excellence, um den Körper in Bewegung zu zeigen, seine Körperlichkeit (Materialität/Immanenz) auszustellen und ihn gleichzeitig im Prozess der medialen Verfremdung (Immaterialität/Transzendenz) aufzulösen.

Iščuščie Boga. Die Sektenserie des Studios Rus′

Unter dem Titel Iščuščie Boga realisierte das Produktionshaus Rus′ eine Serie aus drei Filmen, welche die Enthüllung dunkler Machenschaften der Sekten wie der Chlysten und Weißen Tauben zum Hauptthema machte: Lguščie Bogu und Beguny / Die Läufer (Aleksandr Čargonin, 1917, RFSFR) sowie 1918 produziert Belye golubi / Weiße Tauben (Nikolaj Malikov, 1918, RFSFR). Hinter diesem Projekt stand der Inhaber von Rus′ Мichail Trofimov, Unternehmer und Altgläubiger12, dem es ein besonderes Anliegen gewesen sein soll, in seinen Filmen die Sektierer als Gottlose zu entlarven (Graščenkova 2005: 95). Das Projekt erwies sich in mehrfacher Hinsicht als bedeutend für die Firma und ihre Mitarbeitenden: So soll Belye golubi ein kommerzieller Erfolg gewesen sein und Trofimov, als Novizen in der Filmbranche, Anerkennung verschafft haben. Zudem erhielt der Film außerordentlich gute Rezensionen und soll auch für Diskussionsstoff bei der Filmkritik gesorgt haben (Velikij Kinemo 2002: 423, 425).

Desweiteren ist anzunehmen, dass die Serie auch für den vom Moskauer Künstlertheater bekannten Künstler Viktor Simov und den Kameramann Jurij Željabužskij, beide 1917 noch Neulinge in der Filmbranche, maßgeblich für ihre Filmkarriere war. Simov – er wird später die legendäre Marslandschaft in Jakov Protazanovs Aëlita (1924, Sowjetunion) gestalten – erhielt für die Ausstattung in Belye golubi und Beguny viel Lob (ebd.: 420, 423–425) und Željabužskij, für den Lguščie Bogu die erste alleinige Kameraarbeit bedeutete, bekam nun eine Festanstellung – ein wichtiger Karriereschritt: “Итак, мое операторское мастерство было признано. Я почувствовал себя оператором-профессионалом / Meine kameratechnische Kunstfertigkeit wurde also anerkannt. Ich fühlte mich wie ein professioneller Kameramann” (Željabužskij 1965:184).

Neben der Serie Iščuščie Boga setze sich auch eine Reihe weiterer Filme mit dem Thema der Sekten auseinander. Dazu gehören der eingangs erwähnte Film Temnaja vera sowie die ebenfalls unter Regie von Starevič geführten und von Rus′ produzierten Filme Kaliostro (1918, RSFSR) und dessen Fortsetzung Masony / Freimaurer (1918, RSFSR), die zwar nicht im engeren Sinne sektiererische Gruppen zum Sujet machten, dafür aber das ‘finstere’ Treiben der Geheimgesellschaft der Freimaurer.13 Zudem fügt sich in diese Reihe Černye vorony / Schwarze Raben (Michail Bonč-Tomaševskij, 1917, Russische provisorische Regierung) ein, der sich – nach der Vorlage des gleichnamigen Theaterstücks (1907) von Viktor Protopopov – um die Betrügereien der Ioanitter (eine Abspaltung der Chlystensekte) dreht. Die Liste wäre um einiges länger, würde man die Filme über den damals wohl meistdiskutierten Sektierer dazuzählen. Grigorij Rasputin, dessen Gegner ihn beschuldigten, ein Anhänger der Chlysten zu sein, wurde zur Projektionsfläche für die zu jener Zeit aktuellen Debatten über den gesellschaftlichen Einfluss der Sekten. Nach seiner Ermordung im Dezember 1916 wurde die Aufdeckung des Schwindels des ‘heiligen Teufels’ und dessen Verstrickungen mit der Zarenfamilie zum beliebten Sujet von Theaterstücken14 und auch einer Reihe von Filmen, die den skandalösen Lebensstil Rasputins spektakulär inszenierten.15

Im Kontext der Massenerscheinung von Rasputinfilmen stellt Vladimir Semerčuk fest, dass die Filmfigur Rasputin auch im Dialog mit anderen dämonischen Figuren des Kinos von 1917 und 1918 steht.

[…] сатанизм распутинских картин […] перекликается с сатанинскими и антисектантскими драмами и их героями. В них Распутин представлен не только эротоманом, шпионом и торговцем государственными секретами, но и темной, сатанинской личностью, но только в иронически-уничижительном виде, вроде мелкого чертика или хитрого бесенка. Это как бы самодовольный и ликующий чертенок Протазанова, хлыстовский ‘христосик’ Игнатий из фильма А. Чаргонина. ‘Лгущие Богу’… Так иронико-саркастически связана революционно-разоблачительная серия с другими. (Semerčuk 2013, 26)

[…] der Satanismus in Rasputin-Filmen […] enthält Anklänge an satanische und antisektiererische Dramen und deren Helden. Dort wird Rasputin nicht nur als Erotomane, Spion und Hehler von Staatsgeheimnissen dargestellt, sondern auch als dunkle, satanische Persönlichkeit, dabei aber auf ironisch-abwertende Art, als durchtriebenes Teufelchen oder listiger kleiner Dämon. Er ist wie der eingebildete und jauchzende kleine Teufel von Protazanov, das ‘Chlysten-Christuslein’ Ignatij aus dem Film ‘Die Gottesleugner’ von A. Čargonin … So wird auf ironisch-sarkastische Art die revolutionär-enthüllende Serie mit anderen Filmen verbunden.

Filmische Übertragungen des ‘radenie’

Zur Analyse der filmischen Inszenierungen der sektiererischen Kulte setzt die folgende Fallstudie Lguščie Bogu in den Fokus und nimmt punktuell Vergleiche zu Belye golubi und Temnaja vera vor.

Lguščie Bogu erzählt den Schwindel des von Semerčuk erwähnten “chlystovskij christosik / Chlystenchristus” Ignatij, der die Tochter eines neuen Mitgliedes des Schiffes (korabl′) gegen ihren Willen zur neuen Gottesmutter machen möchte.16 Wenngleich der Film nicht in erster Linie die Absicht hatte, eine historisch korrekte Darstellung der russischen Sektenkultur dem Publikum zu liefern – vielmehr dienen die Kultur und Riten der Sektierer als Folie für die Entwicklung eines Melodramas mit Genre-Elementen eines Abenteuer- oder eines Kriminalfilms – lassen sich, wie in der folgenden Analyse zu lesen, mehrere Referenzen zu den zahlreichen anthropologischen und religiös-philosophischen Dokumentationen über die Chlysten erkennen. Das betrifft die Bewegungsfolge der ‘radenija’, die Bekleidung sowie auch die verschiedenen ‘liturgischen’ Texte, die die Zeremonien begleiteten. Diese Expertise ist wohl auf den Drehbuchautor N. N. Vinogradov, “исследователь русского быта / Forscher des russischen Alltagslebens” (Velikij kinemo 2002: 386), zurückzuführen. Die Bezeichnung “уголовная драма по документам сектантского процесса / Kriminaldrama beruhend auf den Materialien eines Sektenprozesses” (Željabužskij 1965: 186) erweist sich für diesen Genremix zutreffend.

Eine vollständige Filmkopie ist nicht überliefert, es sind aber der dritte, vierte und fünfte Akt der insgesamt fünf Akte sowie die ursprünglichen Zwischentitel erhalten. In den ersten drei Teilen des Films stehen der Aufbau verschiedener Sekten-Gemeinden (“korabli / Schiffe“) unter Anweisung von Ignatij sowie dessen Bekanntschaft mit einem Kaufmann und seiner Tochter im Mittelpunkt. Im vierten Teil kommt es zum Höhepunkt der Geschichte: Ignatij zettelt ein großes ‘radenie’ an, um später unbemerkt die Kaufmannstochter im Nebenzimmer zu vergewaltigen. Doch deren Verlobter erfährt von dem Plan und eilt gemeinsam mit seinen Freunden in der Pferdekutsche zum Hof der Chlysten. In einer ausgeklügelten Parallelmontage – im Stile David W. Griffiths – werden die schlafende Tochter (Opfer und Objekt der Begierde), Ignatij in Großaufnahme (der Täter), die Sektenorgie (der Skandal und die bildliche Attraktion) und der herannahende Verlobte (Retter in letzter Minute) miteinander montiert.

Trotz des dramaturgischen Spannungsaufbaus, erzeugt durch den alternierenden Schnitt der Handlungsstränge, liegt die eigentliche Aufmerksamkeit auf den Szenen des ‘radenie’, die wie im Folgenden zu zeigen sehr sorgfältig choreographiert und filmisch inszeniert wurden. Die statische Kamera ist vor einer Art Gang aufgestellt, den die voneinander getrennt aufgereihten Frauen und Männer (barfuß in jeweils dunklen und weißen bis zum Fußboden reichenden Hemden mit weiten Ärmeln gekleidet) bilden und an deren Ende Ignatij leicht erhöht in der Tiefe des Raumes ersichtlich ist. 17 Das Arrangement suggeriert den Bildeindruck eines Schiffes, der durch die Schrägen der oben angebrachten Holzbalken verstärkt wird. Auf die Eröffnungseinstellung, die den konventionellen Aufbau sowie traditionelle Kostümierung des Chlystenrituals zeigt (Grass 1907: 381–383), folgt eine Großaufnahme von Ignatij, der zu seiner Gemeinde spricht: “Люди Божии! Не щадите плоти вашей! / Leute Gottes! Schont nicht euer Fleisch!” Angetrieben von seinen Worten kommen die Chlysten langsam in Bewegung. Im Weiteren entfalten sich Bewegungsmuster, insbesondere Formen des Drehens wie um die eigene Achse oder im Kreis, die den überlieferten Choreographien des Ritus entsprechen, etwa denen aus den ethnologischen Studien von Konstantin Kutepov (1900, russisch) und Karl Grass (1907, deutsch): Die Bewegungen sind “zunächst wenigstens nicht regellos, sondern zerfallen in eine Reihe geregelter Kollektivbewegungen, die erst allmählich und auch nicht einmal immer in ekstatisches Treiben übergehen” (Grass 1907: 384 f.). Dazu gehören – im Film – einleitend das sogenannte “Ткань цветы и ленточки / Radenije des Blumen oder Bänderchen Webens” (Kutepov 1900: 471 ; Grass 1907: 388), bei dem die Chlysten gegenüberliegend aufgestellt zwischen einander durchlaufen von der einen Wand zur anderen, und sich abwechselnd dazu individuell am Platz bewegen (“Одиночное радение / Einzelradenije”, Kutepov 1900: 460; Grass 1907: 386), schwankend oder um die eigene Achse rotierend, dabei oft mit ausgestreckten, schwenkenden oder hinter dem Kopf verschränkten Armen, die auch metaphorisch für das Schlagen der Engelsflügel stehen können (Grass 1907: 385). Dazu kommt, angeführt von der Gottesmutter, ein Springen der Gruppe nach vorne zur Kamera hin, wodurch die Mimik der Erregung deutlich wird, sowie in Gegenrichtung auf Ignatijs Rufen hin. Zusehends wird es schwieriger, einzelne Figuren voneinander zu unterscheiden, und der Bildeindruck wird von abstrakten Bewegungseffekten wie der Scherenbewegungen und Flattern von Gewändern dominiert.

Diese sehr dynamische Bildspannung wird durch an Tableaus erinnernde Bildarrangements konterkariert, die etwa in der Abbildung 4 gut ersichtlich sind: Die ekstatisch drehende Gottesmutter wird von den ausgestreckten Händen im Hintergrund und von der links im Bild knienden Anbeterin eingerahmt – eine Bildkomposition, die an die kanonische Darstellung religiöser Motive anknüpft.

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Anbetung der Gottesmutter. Aleksandr Čargonin, Lguščie Bogu, 1917 (Gosfil′mofond)

Diese Aufstellung wird nach einem Zwischenschnitt zu Boris auf dem Kutschbock aufgelöst und wir sehen, wie die unübersichtliche Masse sich langsam zu einem Reigen formiert (“Круговое, хороводное радение / Reigenradenije”, Kutepov 1900: 469; Grass 1907: 386). Die Gottesmutter im Vordergrund nimmt die Frauen an den Händen und beginnt im Kreis zu rennen, während in der Mitte die Männer hüpfend und mit den Armen schwenkend in einem kleineren Kreis laufen (Fig. 5,6). Indem die Frauen im äußeren Kreis zur Kamera gerichtet sind (offensichtlich für den Film arrangiert, da dies nicht der Standard-Choreographie entspricht), werden die ekstatischen Gesichter sichtbar, die rollenden Augen begleitet vom Zurückwerfen des Kopfes, das Lachen und Schreien.18 Die einzelnen Figuren und ihre Bewegungen sind nur noch mit Mühe zu differenzieren und allmählich lösen sich die Konturen im Bewegungsbild auf, ein Verfahren, das auch die Auflösung der Bewusstseinsgrenzen im Moment der Ekstase vermittelt.

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Reigen-Radenie. Aleksandr Čargonin, Lguščie Bogu, 1917 (Gosfil′mofond).
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Reigen-Radenie. Aleksandr Čargonin, Lguščie Bogu, 1917 (Gosfil′mofond).

Zahlreiche Elemente aus der oben beschrieben Inszenierung des ‘radenie’ sind auch in Belye golubi und Temnaja vera anzutreffen. Zusätzlich zeigen die beiden Filme eine weitere populäre Tanzform, die eine auserwählte Person in die Mitte mehrerer Kreise positioniert (Ljubič-Košurov 1912: 23). In Temnaja vera wird Ivan während der Aufnahmezeremonie in das Chlystenschiff von drei Reigen umtanzt: “Каждый круг в другую сторону все быстрее и быстрее … / Jeder Kreis dreht in die andere Richtung, schneller und schneller” (Dedinskij 2021: 88) und in Belye golubi ist es ein frisch vermähltes Brautpaar, das umkreist wird. Auf diese Weise wird eine besondere Bilddynamik konstruiert, die durch die Spannung zwischen Stillstand (das statische Brautpaar) und Bewegung (die Reigen) aufgebaut wird, und zusätzlich von den mehreren kreisförmigen Bewegungen, der Kreis aus drei Reigen um das Paar herum sowie das Drehen der einzelnen Kreise in verschiedene Richtungen, potenziert wird.

Von den zahlreich beschriebenen Rotationsbewegungen gilt es an dieser Stelle auf das „Drehen an Ort“ näher einzugehen. Denn das Drehen um die Zentralachse operiert hier auch als eine Pathosformel, als Urbild der tänzerischen Entrückung, die in der zweiten Hälfte der 1910er-Jahren in verschiedenen Kontexten zirkulierte.19 Das monotone Bewegungsritual des Drehens wird zur tänzerischen Schlüsselfigur für die Darstellung, aber auch die Erfahrung von Ekstase. Wie Brandstetter folgert, setzt der Drehtanz “der (theatralisch-zeichenhaften) Repräsentation von Bewegung ein Erfahrungsmodell von Unmittelbarkeit entgegen” (ebd.: 255). Eine derartige ‘de-semantisierte’ Bewegung beschreibt auch Eike Wittrock in Bezug auf die Rotationen von Mary Wigman, der Ikone des modernen Tanzes, aus dem ebenfalls 1917 uraufgeführten Zyklus Ekstatische Tänze:

Die sich bis zum Kollaps steigernde Drehbewegung stellt nichts (anderes) dar, als was sie ist – sie ist weder bewegter ‹Ausdruck der Empfindung›, noch pantomimische Geste, sondern erzeugt einen altered state: Ekstase. (Wittrock 2012, 116; Herv. i. O.)

Die Auflösung der Grenzen, die der Umwelt sowie die des Subjekts, in diesem altered state findet aber wie oben beschrieben auch im Filmbild selbst statt. Dabei handelt es sich nicht mehr um eine für das Publikum stellvertretende Tanzekstase der Solo-Darstellerin, sondern um eine kinematographisch spezifisch gestaltete Gruppenmeditation, die – wie die Analyse zeigen soll – bei den Filmzuschauerinnen und -zuschauer auch kinästhetische Empathie hervorrufen und diese somit einbeziehen kann.

Die Drehung der Figuren in Lguščie Bogu erzeugen den visuellen Effekt der Unschärfe: Die Silhouette, insbesondere die schwingenden Arme, aber auch der Kopf, sind nicht mehr als klar abgegrenzte Flächen wahrnehmbar. Die Konturen lösen sich auf. Eine solche körperliche Entgrenzung im Dreh-Tanz wird durch den Einsatz der weiten Kostüme gesteigert. Die Stoffe verlängern das gestische Spiel in den Raum hinein und schaffen damit auch eine interessante Bildspannung, wobei sich das Filmbild in abstrakte flackernde und rauschende Bewegungen auflöst, zunehmend an Gegenständlichkeit verliert und sich schließlich für kurze Momente als vibrierende oder wogende Fläche zeigt.20

Zurück zum Finale des ‘radenie’ in Lguščie Bogu. Die Reigen spalten sich und die Chlysten fallen zurück in trägere Bewegungen, umarmen sich, werfen und beugen sich nach vorne zur Kamera die Arme nach oben haltend, wobei nicht mehr eine eindeutig einstudierte Choreographie erkennbar ist, sondern ein chaotisches Bild der Menschenmenge entsteht (Fig. 7). Schließlich enden die Sektenmitglieder auf dem Boden, wo sie paarweise umschlungen am Boden wippen (Fig. 8).

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Rausch im ‘radenie’. Aleksandr Čargonin, Lguščie Bogu, 1917 (Gosfil′mofond).
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Rausch im ‘radenie’. Aleksandr Čargonin, Lguščie Bogu, 1917 (Gosfil′mofond).

Obschon das ‘radenie’ unterbrochen wird von dem erzählerischen Strang der Rettung der weiblichen Figur, der Kaufmannstochter, vollzieht sich in den Tanz-Einstellungen, die sich hinsichtlich der Länge sowie Filmsprache klar vom Rest des Films abgrenzen, auch eine Autonomisierung des filmischen Materials. Dies im Sinne Tom Gunnings Konzept der filmischen Attraktion (Gunning: 1986), die nicht mehr vornehmlich narrative Funktionen bereithält und der Handlungslogik unterworfen ist, sondern vielmehr eine besondere Seherfahrung ins Zentrum stellt. In diesem Kontext bietet die Tanzszene in Lguščie Bogu eine mehrdeutige Form des Ausdrucks, “bei der Handlung eher über Körperzustände und Bewegungsqualitäten als über expressive Codes vermittelt werden” (Köhler 2017: 186). Es ist einzuräumen, dass in den Fallbeispielen offensichtlich konventionalisierte Körperzeichen der Ekstase und kulturelle Bewegungsschablonen zum Zuge kommen, alles Bestandteile eines etablierten, hochgradig codierten Tanz- und Schauspielrepertoires. Dennoch geschieht zugleich in der performativen Gestaltung der Ekstase, die auf einer rhythmisierten Körpersprache beruht, eine gewisse ‘De-Semantisierung’. Eine Abstrahierung, die solche Präsenzeffekte wie Rhythmus, Arrhythmie, Tempo, Dauer oder Körper-Performanz in den Vordergrund der Rezeption rückt.21 Die verschiedenen Formen und Rhythmen der Bewegung der Körper und ihrer filmischen Inszenierung adressieren auch eine andere Rezeptionshaltung, eine, die nicht nur auf narratives Verstehen ausgerichtet ist, sondern eben auch auf körperliche Erfahrung und kinästhetischen Nachvollzug.

Der von Hansen-Löve beschriebene “desemiotisierende, deverbalisierende, demetaphorisierende Drang” hin zu einer körperlichen Konkretheit wird gleichsam ins Filmische übersetzt, wenn der Wahrnehmungseindruck der Ekstatiker ins Bild überführt wird. Das Publikum kann nicht nur die Körpertechniken zum Erreichen des ekstatischen Zustands mitverfolgen und die vor Lust und Schmerz verzerrten Gesichter beobachten, es wird förmlich in den Taumel hineingezogen. Bedenkt man das eigentliche Motiv des Films – die Entlarvung der betrügerischen Machenschaften der Chlysten –, kann diese Sequenz aber genau dieses Vorhaben unterwandern – oder zumindest einschränken. Wird doch die Agitation gegen den Rausch (Sujet) selbst zum Rausch (Rezeption).

Abschließend möchte ich den gegenläufigen Prozess von Materialisierung und Dematerialisierung mit der Frage nach der Erotisierung und Fetischisierung der Körperbilder in den ausgewählten Filmen vertiefen: Denn neben den ausführlich beschriebenen künstlerischen Verfahren, die eine Auflösung der körperlichen Grenzen anstreben, werden die ekstatischen Körper in ihrer Leiblichkeit reflektiert und präsentiert. So verweisen die Paare in der oben beschriebenen Schlussszene des ‘radenie’ in Lguščie Bogu auf die nicht belegbaren Vorwürfe an die Chlysten, denen Gruppensex (sval'nyj grech) als zentrale gemeinschaftsbildende Praxis zugeschrieben wurde (Pančenko 2004: 153–171). Doch während die visuelle Inszenierung in erster Linie den Eindruck eines Gemeinschaftskörpers hervorruft, werden andernorts die Körper der Sektenmitglieder in einer deutlicheren voyeuristischen Objektivierung dem Filmpublikum zur Schau gestellt. Dies geschieht auf visueller Ebene etwa in Belye golubi, als sich die Gottesmutter während der Hochzeitszeremonie – in einer Naheinstellung – mit einem Messer in die Brust sticht, um Blut für die frisch Vermählten zu spenden (Fig. 9). Eine Einstellung, die auch in eine Art Dialog mit Lguščie Bogu treten kann, wenn nämlich Ignatij vor dem Beginn des ‘radenie’ im Zwischentitel aufruft, sein Fleisch nicht zu schonen (“Не щадите плоти вашей!”). Schließlich zeichnen sich auch auf literarischer Ebene im Drehbuch von Boltjanskij die tanzenden Körper durch eine besondere Leiblichkeit und Erotisierung aus (“обнаженные руки, ноги, торсы / nackte Arme, Beine, Oberkörper; разгоряченные тела / erhitzte Körper”, Dedinskij: 92), die durch die skopophile Blicksituation befördert wird – Ivan entdeckt das vor ihm geheim gehaltene ‘radenie’: (“Взглянул и в ужасе закрыл руками лицо / Er sah auf und bedeckte vor Entsetzen mit seinen Händen sein Gesicht”, ebd.).

Doch trotz dieser voyeuristischen Blickkonstellationen (auf diegetischer sowie extradiegetischer Ebene) heben sich die filmischen ‘radenija’ deutlich von zahlreichen tänzerischen Darstellungen im frühen russischen Film ab, welche die weibliche (Haupt-)figur als Objekt skopophiler Begierde präsentieren (Morley 2017). Vielmehr werden Momente der Fetischisierung vom (weiblichen) Körper von der visuellen Attraktion des kollektiven Körpers verdrängt oder überlagert.