Memorial Moskau, Heike Winkel, Lutz Dittrich: Samizdat im Gulag – eine schwarze Literaturgeschichte.

Eine Ausstellung im Literaturhaus Berlin, 24. Oktober - 13. Dezember, 2015

Author
Florian Olbrich, Miriam Säckler
Keywords
Osip Mandel’štam; Maksim Gor’kij; Stalin; Gavriil Gordon; Galina Zivirko; Samizdat; Gulag; Literatur; Sowjetunion; Solovki-Inseln; Perm-36; Memorial
Gavriil Gordon. 1933. Oscar Wilde. Der glückliche Prinz. Handbeschriebener kartonierter Notizblock. Mit freundlicher Genehmigung von Sammlung Memorial Moskau.

Die Überlieferung von Osip Mandel’štams Werk verdanken wir dem Gedächtnis seiner Frau. Nach der Verhaftung und Internierung ihres Mannes im Gulag – Mandel’štam hatte ein stalinkritisches Gedicht verfasst, das aufgrund seiner Brisanz nur mündlich tradiert wurde – sah sich Nadežda Mandel’štam gezwungen, jedes schriftliche Zeugnis seines literarischen Schaffens zu vernichten, um Repressalien durch das stalinistische Regime zu entgehen. Das Werk ihres Mannes bewahrte sie, indem sie es auswendig lernte, und es erst in den 60er Jahren schriftlich fixierte. Auf Papier wurde Mandel’štams Stalin-Gedicht bemerkenswerterweise nur als Niederschrift aus einem KGB-Verhör überliefert. Schicksalen wie dem der Mandel’štams und ihrer Texte widmete sich die Ausstellung „Samizdat im Gulag – Eine schwarze Literaturgeschichte” im Literaturhaus Berlin.

Literatur und Diktatur stehen stets in einem wechselhaften Verhältnis: einerseits sind totalitäre Herrscher daran interessiert, ihr Weltbild mittels Schrifttum zu propagieren, andererseits versuchen sie diejenigen zum Schweigen zu bringen, die gegen dieses Weltbild anschreiben. Dass jedoch auch die Unterdrückten Mittel und Wege finden, sich literarisch auszudrücken, zeigte die Ausstellung „Samizdat im Gulag. Eine schwarze Literaturgeschichte“, die zwischen dem 24. Oktober und dem 13. Dezember im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße zu sehen war.

Samizdat (Kurzform des russischen samoizdatel’stvo = Selbstverlag) ist die Bezeichnung für den alternativen Literaturbetrieb, der im Untergrund und in den Straflagern der Sowjetunion Verbreitung fand. Geschrieben wurde auf allem, was sich auch nur im Ansatz dazu eignete: Papier, Karton bzw. Pappe, Zigarettenblättchen, Zeitungen, alte Formulare, Birkenrinde. Die Ausstellung entstand aus der Zusammenarbeit des Literaturhauses Berlin und der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, die 1989 gegründet wurde und sich seitdem für die historische Aufarbeitung totalitärer Systeme einsetzt. Eine wichtige Komponente dieser Arbeit ist unter anderem die Dokumentierung der Samizdat-Erzeugnisse, die während der Sowjetzeit entstanden.1

Ein Teil des Bestandes von Memorial bildet den Kern der Ausstellungskonzeption, einige der Ausstellungsstücke wurden erstmalig außerhalb Russlands gezeigt. Die Exponate sind in einer Art Schneckenform angeordnet, befestigt an einer Bretterkonstruktion, die an die Verschläge des Gulags erinnert. Die erste Windung dient in erster Linie zur historischen Kontextualisierung der Thematik. Dieser Kontext ist die Herrschaft Stalins, insbesondere die Zeit des großen Terrors, in der Abertausende von Regimekritikern und Andersdenkenden in den Gulags interniert wurden. Die Kernzeit dieser Lager reichte von den 1930er Jahren bis zu Stalins Tod 1953. Viele der politischen Gefangenen kehrten nicht zurück, sie fielen den unmenschlichen Bedingungen der Gulags zum Opfer.

Eine sozialistisch verklärte Darstellung dieser Zustände lieferte Maksim Gor’kij im Bericht von seinem Besuch des Lagers auf den Solovki-Inseln. Seine Rolle wird in der Ausstellung unter der Überschrift „Die Tragik des Maxim Gorki“ beleuchtet, ein Verweis auf seine Karriere während des Sowjet-Regimes. Zur Zarenzeit ein prominenter Unterstützer der kommunistischen Bewegung, ließ sich Gor’kij in der Sowjetzeit für Stalins Literatur des sozialistischen Realismus missbrauchen. Dem staatlich verordneten Stil mussten nach und nach alle anderen Strömungen weichen.

Das Lager auf den Solovki-Inseln zeichnete sich nicht nur durch prominente Besucher wie Gor’kij aus. Dort befand sich eine umfangreiche Bibliothek, die sich u.a. aus christlicher Literatur aus den Beständen des ehemaligen Klosters und neueren Werken, zusammensetzte; dieser Zugang zu Literatur hatte für die Häftlinge, darunter viele Intellektuelle, eine besondere Bedeutung. Einigen von ihnen war es sogar möglich mit Rückgriff auf die Mittel dieser Bibliothek ihre durch die Haft unterbrochene wissenschaftliche Arbeit wieder aufzunehmen. Neben wissenschaftlicher Literatur wurde in diesem, wie auch in anderen Gulags, eine erstaunliche Bandbreite literarischer Texte produziert, woraus sich der Samizdat entwickelte.

Handschriftliche Ausgabe des Schusses von Aleksandr Puškin. 1949. Mit freundlicher Genehmigung von Sammlung Memorial Moskau.

Mit Fortschreiten der Stationen erfährt der Ausstellungsbesucher mehr über diesen Fokus der Ausstellung. Häufig ging es dabei gar nicht um die Produktion eigener Texte, sondern um das Kopieren von Klassikern, etwa von Puškin. Oftmals wurden die Geschichten jedoch an die Realität des Lagers angepasst oder in diesem Sinne persifliert. Gedichte wurden oft gar nicht erst niedergeschrieben, stattdessen memoriert. Dies konnte bisweilen auch als Autosuggestion dienen, etwa wenn sich die Häftlinge in beengter Einzelhaft befanden. Kreativität und Originalität waren im Samizdat nicht zwingend Sache des Textinhalts oder der Autorenschaft. Oftmals äußerten sie sich in der Wahl des Mediums. Entscheidendes Auswahlkriterium war zumeist die Verfügbarkeit. Umso beeindruckender ist es zu sehen, wie viel Wert einige der Herausgeber des Gulag-Samizdat auf ein ansprechendes Layout ihrer Veröffentlichungen legten. So findet sich im inneren Teil der Ausstellung ein Notizblock, auf dem Professor Gavriil Gordon in winziger Schrift eine didaktisch-philosophische Abhandlung für seine älteste Tochter verfasste, da es ihm wegen seiner Gefangenschaft im Gulag nicht möglich war, sie selbst in Philosophie zu unterrichten. Ein Büchlein, sorgfältig gebunden, dessen Seiten aus Zigarettenpapier bestehen, ist in winziger Schrift mit Gedichten, der beliebtesten Gattung im Gulag, gefüllt. Es hat nur deshalb überlebt, weil ein Gulag-Funktionär das Foto auf der ersten Seite für den Liebhaber der Besitzerin, einer jungen namenlosen Estin, hielt und nicht den verbotenen Autor Aleksandr Blok darin erkannte.

Selbstgemachtes Album mit Gedichten angefertigt von einer Estin. Mordwinien, Dorf Jawas, 10. Lagerpunkt. 1953. Umschlag aus Birkenrinde mit Zeichnung und einer geflochtenen Schnur. Mit freundlicher Genehmigung von Sammlung Memorial Moskau.

Beeindruckend ist auch ein Buch, bei dem sich Galina Zivirko mit Liebe zum Detail der Illustration des Märchens Teremok (Das kleine Haus) gewidmet hat. Auf den ersten Blick wäre nicht zu erkennen gewesen, dass es sich um ein Werk handelt, das unter den widrigsten Umständen und mit enormem Improvisationstalent entstanden ist.

Auffallend ist, dass sich die Schriftstücke nahezu ausschließlich mit a-politischen Themen befassen. Dies zeugt davon, wie sehr der Samizdat den Insassen dazu diente, dem Lageralltag und der politischen Wirklichkeit zu entfliehen. Gleichzeitig scheint dieser Umstand die schwankende Qualität der Texte zu erklären – ihre Autoren waren oftmals Laien. Der literarische Wert des Samizdat liegt demnach woanders: es sind seine Materialität und Funktion, weniger der Inhalt, die den Wert des Samizdat darstellen. Literatur unter allen Umständen, als Ablenkung, Therapie oder Nachlass. Die Ausstellung hat dies anschaulich gezeigt. Durch ihre gründliche Auseinandersetzung mit staatlicher Repression und Zensur besitzt sie zudem eine traurige Aktualität: Dass man in Russland inzwischen versucht, die Erinnerungsarbeit an den Gulag von staatlicher Seite zu lenken beziehungsweise mit der staatlichen Übernahme von Gedenkstätten eine regelrechte Verstaatlichung des Andenkens erfolgt und Organisationen wie Memorial Moskau unter starken Druck geraten, erscheint vor dem Hintergrund ihrer Arbeit beinahe als Zynismus der Geschichte. So wurde Russlands einziges Gulag-Museum, betrieben von der Nichtregierungsorganisation Perm-36, im Jahr 2014 von den Behörden geschlossen.2Es erfolgte eine Wiedereröffnung von staatlicher Seite, dementsprechend präsentiert sich nun auch das Museum: die Geschichte des Gulags, staatlich zensiert. Die Arbeit der Organisation Perm-36, die in den 1990er Jahren gegründet wurde, stand diesem Ansatz diametral entgegen. Die NRO hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Repressionen des stalinistischen Regimes auf dem Territorium des ehemaligen Gulags ein Denkmal zu setzen und das Andenken an diesen Teil der russischen Geschichte zu bewahren. Gerade vor dem Hintergrund, dass das Gulag-Museum das einzige dieser Art in Russland ist, stellt die Übernahme durch den Staat einen umso größeren Verlust dar. In der Folge stellte Perm-36 seine politische Arbeit im Frühjahr 2015 ein. Inzwischen beschuldigt das russische Justizministerium Memorial „mit seiner Tätigkeit […] die Grundlagen des Verfassungsaufbaus der Russischen Föderation zu untergraben, indem sie zum Sturz der Staatsmacht und zur Änderung des politischen Regimes im Land aufzurufen“. Damit haben sich die Angriffe von staatlicher Seite enorm verschärft.3

Die in Berlin gezeigten Exponate aus den Beständen Memorials boten hingegen eine freie Auseinandersetzung mit dem Samizdat der stalinistischen Lager, was eine breitere Perspektive auf die menschlichen Schicksale dieses Teils der jüngeren russischen Geschichte ermöglicht. Zurück bleibt die Frage, wie lange solche seltenen Exponate aus Russland noch zu uns kommen werden, und ob die Gefahr eines baldigen Verschwindens der Ausstellungsstücke in den staatlichen Archiven von Putins Russland droht.

Florian Olbrich und Miriam Säckler

Freie Universität Berlin

effo91@zedat.fu-berlin.de; msaeckler@fu-berlin.de

Bibliography

Website: http://www.literaturhaus-berlin.de/veranstaltung/405-samizdat-im-gulag-eine-schwarze-literaturgeschichte-2.html

Suggested Citation

Olbrich, Florian, und Miriam Säckler. 2016. Rezension: “Memorial Moskau, Heike Winkel, Lutz Dittrich: Samizdat im Gulag – eine schwarze Literaturgeschichte.” Ghetto Films and their Afterlife (ed. by Natascha Drubek). Special Double Issue of Apparatus. Film, Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 2-3. DOI: http://dx.doi.org/10.17892/app.2016.0002.31

URL: http://www.apparatusjournal.net/

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